Keine 10-Jahres-Frist bei Staking? Das BMF-Schreiben vom 10.05.2022 (Teil 1)

Gestern hat das Bundesministerium der Finanzen (endlich) das lange erwartete BMF-Schreiben zur ertragsteuerrechtlichen Behandlung von virtuellen Währungen vorgelegt. Bislang lag dieses Schreiben nur im Entwurf vor.

Was hat sich im Vergleich zum Entwurf geändert? Im ersten Teil dieser kleinen Serie von Beiträgen steht die wohl prominenteste Änderung im Fokus:

10-Jahres-Frist nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 S. 4 EStG

Nach Auffassung des BMF kommt bei virtuellen Währungen die

„Verlängerung der Veräußerungsfrist nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 S. 4 EStG nicht zur Anwendung„.

BMF-Schreiben vom 10.05.2022, Rn. 63

Diese Aussage ist mehreren Gründen bemerkenswert.

1. Vereinbarkeit mit dem Gesetzeswortlaut: Nach dem Gesetz gilt die 10-Jahres-Frist, wenn bei Wirtschaftsgütern eine

Nutzung als Einkunftsquelle zumindest in einem Kalenderjahr

§ 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 S. 4 EStG

vorliegt. Virtuelle Währungen fallen nach dem BMF als anderes Wirtschaftsgut unter § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG (vgl. BMF-Schreiben vom 10.05.2022, Rn. 53). Werden mit diesen Wirtschaftsgütern beispielsweise Einkünfte aus Staking erzielt, sind diese Einkünfte nach § 22 Nr. 3 EStG steuerpflichtig (vgl. BMF-Schreiben vom 10.05.2022, Rn. 48). Denn die Gegenleistung (Staking-Reward) wird für die Leistung (temporärer Verzicht auf die Nutzung der Einheiten einer virtuellen Währung) des jeweiligen Steuerpflichtigen bezahlt (vgl. BMF-Schreiben vom 10.05.2022, Rn. 48).

Es erschiene daher folgerichtig, diese Nutzung zum Erwerb von Staking-Rewards als Nutzung als Einkunftsquelle i.S.d. § 23 Ans. 1 S. 1 Nr. 2 S. 4 EStG einzuordnen. Die klassischen juristischen Auslegungsmethoden sprechen deutlich für eine solche Einordnung. Zunächst wäre da der Wortlaut, welcher jede Nutzung als Einkunftsquelle umfasst und damit sehr weitreichend ist. Dies dürfte dem Sinn und Zweck der Norm entsprechen, da der Gesetzgeber hiermit möglichst alle denkbaren Anwendungsfälle greifen will. Denn warum sollten Immobilien, Oldtimer oder Kunstwerke – die allesamt bei Einkünften z.B. aus der Vermietung unter § 23 EStG fallen – die 10-Jahres-Frist auslösen, virtuelle Währungen dagegen nicht? Ein sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung (vgl. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz) liegt jedenfalls nicht auf der Hand.

2. Fehlende Begründung: Das BMF fasst sich extrem kurz und erläutert diese Sichtweise nicht näher. Dadurch schafft dieses Schreiben nur scheinbar Rechtssicherheit. Denn die Meinung des BMF (Exekutive) hat gerade keine gesetzesgleiche Wirkung. Es ist rechtstechnisch gesehen nur die Sichtweise des BMF. Liegt ein solcher Fall einem Finanzgericht zur Entscheidung vor, kann und muss dieses ausschließlich anhand des Gesetzes entscheiden. Praxisrelevant ist diese Sichtweise dennoch, da die Auffassung des BMF für die Finanzämter vor Ort sehr bedeutsam ist. Es bleibt jedoch das nicht unerhebliche Risiko, dass eines Tages der Bundesfinanzhof – mit Blick auf den Wortlaut des Gesetzes naheliegend – zu einem anderen Ergebnis kommt. Für den Steuerpflichtigen kommt es dann auf die Entscheidung des BFH an, die Auffassung des BMF ist dann zweitrangig.

3. „Nichtanwendung“ als Begriff: Bemerkenswert an der konkreten Formulierung ist zudem, dass das BMF sinngemäß von „Nichtanwendung“ spricht. Im Steuerrecht berüchtigt sind die sog. Nichtanwendungserlasse des BMF. Darin weist das BMF die Finanzverwaltung an, ein bestimmtes Urteil nicht über den Einzelfall hinaus anzuwenden. Da ein Urteil theoretisch immer nur für den ganz konkret entschiedenen Fall gilt, ist diese Praxis zulässig. Sie lässt sich mit Art. 85 Abs. 3 Grundgesetz rechtfertigen.

Dass Steuerpflichtige mit sehr ähnlichen Fällen dennoch gute Chancen in der Auseinandersetzung mit dem Finanzamt haben – spätestens jedenfalls vor dem Finanzgericht, welches an Nichtanwendungserlasse nicht gebunden ist – steht auf einem anderen Blatt.

Vorliegend geht es aber gerade nicht um ein Urteil eines Gerichts, sondern um materielles Recht, welches das BMF jedenfalls auf Kryptowährungen nicht anwenden will. Eine solche Befugnis, geltendes Recht nicht anzuwenden, steht dem BMF aber nicht zu. Das BMF hat lediglich das Recht, die Auffassung zu vertreten, dass eine Norm für einen bestimmten Fall nicht einschlägig ist. Eine Begründung dieser Auffassung ist zwar nicht zwingend erforderlich, wäre aber äußerst hilfreich. Spätestens in einem Finanzgerichtsprozess müssen die Finanzbehörden ohnehin darlegen, warum sie der Meinung sind, dass die 10-Jahres-Frist nicht greift.

Fazit: Vorliegend hat das BMF aus den genannten Gründen nur scheinbar für Rechtssicherheit gesorgt. Steuerpflichtige müssen daher im Einzelfall abwägen, wie relevant die 10-Jahres-Frist für sie sein könnte. Sich vollens auf diesen einen Satz im BMF-Schreiben zu verlassen, kann aus heutiger Sicht nicht guten Gewissens geraten werden.